von Marxelinho

Echtweltverein

Zwischen zwei "Champions League"-Halbfinalen, in denen ich als Fan sehr gering investiert bin, lenke ich die Aufmerksamkeit schnell auf eine neue Publikation. Der Journalist und Autor (und befreundete Herthaner) Klaus Ungerer hat unter dem Titel Die Lieder warten in den Pappeln einige Fußballfantexte versammelt, die alle wirklich super sind.

Einer davon gehört sogar in den Kanon der Fußballliteratur: "Sevilla" datiert aus dem Jahr 1999 und enthält eine praktische Theologie des Fußballgotts am Beispiel des Umstands, dass es sich bei Fußball um ein Spiel mit zwei Mannschaften handelt, an dessen Ende immer die Deutschen gewinnen. Das ist inzwischen mehrfach widerlegt worden, und diese Widerlegung wird in besagter Geschichte am Beispiel der 82er-WM gleichsam innerhimmlisch hergeleitet. In einer schönen Parallele zum Nationaldrama Faust, in dem Gott sich ja auch mit Gegenrednern auseinandersetzen muss, bekommt es der Fußballgott hier telefonisch mit einem Kollegen von der Fernsehunterhaltung zu tun. Der schafft es, Gott für ein paar Momente zu einem Fan der Deutschen werden zu lassen, am Ende gibt es aber ausgleichende Gerechtigkeit.

Das alles ist zugleich die kürzest mögliche Geschichte dieser einen WM, die mich als Österreicher wegen des Skandalspiels von Gijon besonders erbost hat - ich war damals, wie ich es heute auch immer wieder vergeblich bin, dafür, dass die kleine Mannschaft der größeren einen Streich spielt, statt sich auf öde Pragmatik einzulassen.

Klaus Ungerer schreibt mehrfach von einem typischen deutschen Schicksal. In diesem so besonders föderalen Land gehen ja viele Fans mit der Hypothek ins Rennen, dass ihre Lieblingsmannschaft, sehr oft eine oder die aus dem Ort des Herkommens, nicht in den höheren Ligen vertreten ist. In seinem Fall ist es der VfB Lübeck, der "Stolz Schlesweig-Holsteins", der in seinem natürlichen Aggregatszustand in der vierten Liga spielt und gelegentlich Exkurse nach weiter oben startet, die bei Verstetigung vermutlich das "Stadiönchen" sprengen würden, in dem in Lübeck gespielt wird.

Der VfB ist zudem Ungerers "Echtweltverein". Der Begriff spielt darauf an, dass es in seinem Buch vielfach auch um das digitale Paralleluniversum des Fußballs geht, von dem hier aufregende Frühphasen dokumentiert werden: Zum Beispiel eine "Play-by-Email"-Liga. "Alle Mitspieler geben ihre Züge während der Woche ab, am Sonntag wird ausgewertet. (...) Für die gesamte Saison hat man ein Depot aus Torchancen und Torverhinderungen, von denen bis zu zehn pro Match eingesetzt werden."

Die Ausführungen des Autors gipfeln für meine Begriffe in zwei Sätzen. Der eine enthält eine quintessentielle Definition des Fans: "Der Fan ist das Opfer all dessen, was auf dem Rasen und in den inkompetenten Führungsgremien geschieht, hilflos ist er jenen Unglücken ausgeliefert, die aus missverstandenen Zurufen in der Innenverteidigung entstehen, fassungslos muss er skandalöse Trainerverpflichtungen ertragen" - der darauf folgende Nebensatz ist dann sehr spezifisch. Mit dieser nachgerade existentialontologischen Bestimmung ("Ausgeliefertsein") rührt Ungerer neuerlich ans Theologische.

Das löst er dann in dem zweiten Hauptsatz seines Buches aber sehr souverän auf. Darin schreibt er über sich selbst. "Klaus Ungerer ... ist aus der Kirche ausgetreten und bei Hertha BSC ein." Das gilt ganz genauso auch für mich. Und über das "und" in diesem Satz könnte man Abhandlungen schreiben, die so lang sein müssten wie das Leben.

Klaus Ungerer: Die Lieder warten in den Pappeln. Fußballfantexte (als Ebook für Kindle), 2,68 Euro

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