von Marxelinho

Halbs hinum, halbs herum

Als Hertha gestern gegen den VfL Wolfsburg antrat, musste ich gerade zum Boarding für den kurzen Flug von Helsinki nach Berlin, mit dem ich schließlich aus Toronto zurückkehrte. Traditionell beginnt damit nicht nur der Herbst für mich, sondern auch eine Periode mit viel Fußball, wobei ich dieses Mal eben nicht live zurechtkam, sondern mir das Spiel am Sonntagmorgen aus der Konserve ansah.

Es ging schließlich mit 0:2 verloren, die Tore fielen spät, lange Zeit stand das Spiel zwar nicht eigentlich auf der Kippe, aber es war offen, ob eines der beiden Konzepte aufgehen würde - ein 0:0 hätte aber auch gepasst. Bei dem oberösterreichischen Schriftsteller Alois Brandstetter habe ich neulich eine schöne Dialektformulierung für diesen Zustand des Unentschiedenen gelesen: "halbs hinum, halbs herum" sagen die Leute in meiner Gegend, wenn etwas so oder so hätte sein können, wenn es einerseits in diese Richtung ("hinum" = hinüber) hätte kippen können, andererseits aber auch in die andere ("herum" = herüber).

Im Detail betraf das vor allem ein paar Schiedsrichterentscheidungen, die so oder so hätten ausfallen können. Es gab mehrfach Elfmeteralarm, in keinem Fall allerdings war er dramatisch, auch wenn man schließlich sagen könnte (im Einklang mit Dr. Markus Merk übrigens, dessen ein wenig lächerlich vermarktete Autorität ich aber nicht befördern möchte), dass die Ansprüche von Mitchell Weiser gegen Naldo vielleicht am stärksten berechtigt gewesen wären.

Generell ist es ja so, dass bei Fouls aufgrund der Athletik und Schnelligkeit des Spiels immer schwerer zu entscheiden ist, wieviel davon Geben und wieviel Nehmen ist. Das Foul, das sich Julian Draxler von Fabian Lustenberger in der Schlussphase holte, ist so ein Fall: die Wendung, mit der der Stürmer den Verteidiger überrascht, ist zugleich schon wesentlicher Teil des Falls, den er damit herbeiführt. Lustenberger hat nicht einmal mehr Zeit genug, um zurückzuziehen.

So enthielt dieses Spiel zahlreiche Detailszenen, in denen sich das große Ganze wiedererkennen ließ: dass hier zwei Mannschaften, zwischen denen lange Zeit kein grundlegender Qualitätsunterschied erkennbar war, auf einen Moment hinarbeiteten, in dem etwas die Ausgeglichenheit aufheben konnte.

Dabei war die Rollenverteilung vor allem durch ein Detail doch deutlich erkennbar. Hertha spielte mit Skjelbred, Cigerci und Darida, also nominell mit drei defensiven Mittelfeldspielern, auch wenn Darida de facto einen Zehner versuchte. Die erste Halbzeit war auf jeden Fall eine Bestätigung der Tendenz, dass Hertha in dieser Saison durchaus konkurrenzfähig sein kann, das war nicht nur Abwarten auf Konter, das war mehr als klassisches Upsetting. Dann verletzten sich allerdings Langkamp (Pressball mit Guilavogui) und Kraft (an der Schulter nach einem "Luftkampf" mit Naldo). Die beiden erforderlichen Auswechslungen machten den Matchplan obsolet.

Wir können davon ausgehen, dass Dardai andernfalls ab der 60. oder eher ab der 75. Minute offensive Qualität eingewechselt hätte, in einem Spiel, in dem allerdings auch ein 0:0 als Erfolg hätte gelten können. Baumjohann aber blieb auf der Bank, stattdessen kam spät noch van den Bergh.

Den Ausschlag gab eine Einwechslung bei Wolfsburg. Maximilian Arnold spielt den entscheidenden Ball, eine Flanke, die Plattenhardt auf dem falschen Fuß erwischt. Er versucht noch, Caligiuri und Dost abseits zu stellen, wie es Lustenberger suggeriert, aber dazu reicht die Zeit nicht mehr. Arnolds Ball ist perfekt, Kruse hatte ein paar Minuten davor mit einer Hereingabe auf Draxler alles vorgemacht.

Hertha hat mit vielen Verletzungen zu kämpfen, fast alle sind den Unwägbarkeiten des Spiels geschuldet, sind also mit einem Wort auf Pech zurückzuführen. Trotzdem ist da eine interessante Mannschaft auszunehmen. Cigercis Comeback machte das Spiel aus der eigenen Hälfte heraus sofort variantenreicher, oft ließ er sich weit fallen, um die Innenverteidiger bei der Spieleröffnung zu unterstützen.

Stocker und Darida waren defensiv zu stark beansprucht, um wirklich Akzente setzen zu können, Haraguchi bestätigt seine wachsende Bedeutung, und Ibisevic, der schon an Kalou vorbeigezogen ist, ist ganz vorn deutlich besser eingebunden als der Star von der Elfenbeinküste. Unspektakulär, für die geneigten Zuschauer aber doch sehr erfreulich, konsolidiert sich da gerade eine Mannschaft, die irgendwann auch die individuellen Talente (Stocker, Weiser) besser zur Entfaltung bringen könnte.

Der VfL Wolfsburg ist keineswegs außer Reichweite, Hertha hat es geschafft, auch die gut ausgestattete Werksmannschaft in die enge Liga zu zwingen, die ab Platz 3 in der Tabelle beginnt. Wenn man allerdings einen Arnold einwechseln kann, und einen Stürmer mit dem Selbstvertrauen eines Bas Dost, sind das dann doch Faktoren, die zu dem "halbs hinum" beitrugen. Denn am Ende war das Match dann eben nicht nur vorüber, sondern auch hinüber.

Die nächsten drei Spiele gegen Köln, Frankfurt und Hamburg werden Hertha helfen, sich in dieser Liga besser zu orientieren. Das Heimspiel gegen Köln verspricht auch ein paar Hinweise darauf, wie Pal Dardai und Rainer Widmeyer sich die offensivere Hertha vorstellen. Skjelbred, Dardida und Cigerci, dazu irgendwann wohl auch wieder Lustenberger, das wird ein interessantes Puzzle.

Der tschechische "Königstransfer" spielt nach wie vor mit dem Bonus seiner Ablösesumme, ist aber noch immer nicht wirklich in der Verfassung für prägende Aktionen. Gleiches gilt für Stocker, der ein Jahr davor dieses zweifelhafte Etikett zu tragen hatte, seinen Wert allerdings schon mehrfach, nie aber wirklich kontinuierlich, unter Beweis gestellt hat. Das sind alles spannende Fragen, die das Verhältnis von Grundlagenarbeit und Kreativität betreffen. Die Niederlage in Wolfsburg kam auf eine Weise zustande, die der Selbstfindung dienlich sein kann.

Kommentare

Einen Kommentar schreiben

Bitte addieren Sie 1 und 6.