von Marxelinho

In weiter Nähe, so fern

"Wir sind noch nicht so weit", hat Pál Dárdai nach dem 2:2 gegen Schalke 04 gesagt. Es war nämlich auch ein Heimsieg möglich, der Ausgleich durch Joel Matip fiel fast schon in der Nachspielzeit, und in der 90. Minute konnte ich ihn in der Aufzeichnung sehen, wie er fast schon wieder auf dem Weg nach hinten ist. Dann hat Schalke einen Einwurf, er überlegt es sich, geht wieder nach vorne ins Zentrum, wenig später kommt der Ball zu Fuchs, der eine Maßflanke nach innen schlägt. Diese Flanke, meint Dárdai, hätte jemand mit seinem ganzen Leben verhindern müssen. Pathos ist auch eine Form von Motivation.

Ich habe mir das Spiel heute in der Konserve angesehen, am Samstag war ich vier Flüge und fast 10000 Kilometer weit weg vom Live-Erlebnis, das toll gewesen sein muss. Ich saß im Urlaub vor dem Ticker, der auf der offiziellen Hertha-Seite besonders frustrierend, ja fast schon sadistisch gestaltet ist. Denn man sieht dort ständig einen Balken sich rot laden, und am Ende der Aktualisierung sieht man zuerst am Spielergebnis, ob sich etwas getan hat. Und da stand dann eben plötzlich 2:2 statt 2:1, und erst nach einer Weile wurde der Grund nachgeliefert, und auch da konnte ich mir nur unklar vorstellen, was los war.

Der Ticker zäumt die Kausalität also immer von dem anderen Ende her auf, vom schnöden Ergebnis, das beim normalen Zuschauen hinter einer längeren Kette von Umständen steht. Das macht ihn so schwer erträglich, abgesehen davon, dass das Spiel, das vor dem geistigen Auge entsteht, ganz und gar schemenhaft bleibt. Wenn ich es dann später nachhole, muss ich aber doch darauf achten, nicht einfach die im Gedächtnis nachhallenden Ticker-Sätze abzuhaken, sondern noch einmal genau hinzuschauen.

Es hat auch in der Wiederholung noch Spaß gemacht, nicht, weil es eine überragende, fehlerfreie Leistung gewesen wäre, einfach nur, weil auch das Fernsehbild noch erkennen lässt, dass Hertha Fußball gespielt hat, dass die gute Grundlagenarbeit auch das eine oder andere spielerische Element ermöglicht. "Ich habe Spielzüge gesehen", hat der Coach hinterher gesagt, dessen Augen funkelten. Er wirkt ansteckend, wie er über alles spricht, und ich beginne mich, wie viele andere Fans wohl auch, gerade ein bisschen in Edzö (Coach) Pál zu verknallen.

Es kommt ihm aber auch entgegen, dass er nicht nur aus dem letzten Aufgebot auswählen kann. Hertha hat diese Saison mit einem großen Kader begonnen, in dem aber immer das Personal für eine in der ersten Liga konkurrenzfähige Mannschaft vorhanden war. Es fand sich nur unter Luhuky nicht immer, aus Gründen, die mit Verletzungen, aber auch Animositäten und Vorurteilen zu tun hatten.

An einem Samstag wie gegen Schalke stellt sich die Frage nach Hegeler gar nicht wirklich, und Marcel Ndjeng konnte "nie so wertvoll wie heute" auf der Bank sein. Langkamp und Brooks (der jüngere nicht gänzlich fehlerfrei) in der Innenverteidigung, Lustenberger als Anchor Man vor der Abwehr, Stocker als offensive Integrationsfigur, und Kalou dieses Mal fast mehr als allgemeiner Gestalter denn als bloßer Zielspieler - das ist schon eine gute Achse.

Dazu Ben-Hatira, später Cigerci, beide sichtlich nicht bei 100 Prozent, aber gute Fußballer. Mit einem Wort: das ist eine Mannschaft, mit der man sich gern beschäftigt. Auffällig war, wie häufig Hertha den Ball gewinnen konnte (das englische Wort "interceptions" trifft es dabei wirklich am besten), nicht in allen Fällen gelang daraus ein Spielzug, und Schalke war auch ziemlich konzentriert, aber es war doch großartig zu beobachten, wie gut die Spieler dazwischengingen, aggressiv waren.

Anders als beim Auswärtsspiel im Herbst, als Hertha sich fast schon ein wenig naiv mit Ballbesitz beschäftigte, während Schalke die Tore machte, war das ein besser ausgeglichenes Spiel, keineswegs eine reine Destruktivtaktik, sondern ein beiderseitiger Versuch, konzentriertes Spiel gegen den Ball mit interessanten Kontraktionen zu verbinden. Ein bisschen was von der Normalität im Fußball war da zu sehen, die in dieser harten Liga fast schon zu einer Rarität geworden zu sein schien: dass ein Spiel eben in zwei Richtungen geht, und dass beide beteiligten Mannschaften damit auch einverstanden sind, und einander nicht nur bei ihrem wechselseitigen Umschaltinteresse beobachten.

Dass Hertha gegen eine Mannschaft, die ein paar Tage davor spektakulär die Abgehobenheit von Real Madrid ausgenützt hatte, ziemlich gut aussehen konnte, hat mit der Arbeit zu tun, die Dárdai und Widmayer offensichtlich leisten. Drei Spiele ohne Niederlage machen vorsichtig optimistisch für das Auswärtsspiel in Hamburg. Der Abstiegskampf ist keineswegs abgehakt, aber es macht doch ein wenig den Eindruck, dass in Berlin eine kleine Depression überwunden wurde, und nicht mehr der Krampf dominiert, den notdürftig zusammengestoppelte Mannschaften mit bloß eingeredetem Selbstbewusstsein eben gerade so hinkriegen, sondern dass Schritte hin zu einem Spiel gemacht werden. Das macht Spaß.

Einer meiner besten Freunde, der beruflich viel reisen muss, sagt gern, wenn wir uns zum Fußballschauen verabreden: "Jetzt fahre ich nie mehr weg." So ähnlich geht es mir auch durch den Kopf: Jetzt fahre ich erst wieder weg, wenn diese Saison gespielt ist, wenn wir wissen, was aus Hertha in diesem Frühjahr wird. Ein weiteres Mal möchte ich nicht auf den Ticker angewiesen sein, wenn die tatsächlichen Bemühungen so ersprießlich sind.

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