von Marxelinho

Spiel ohne Stürmer

Die ganze Jubiläumssaison der Bundesliga habe ich gebraucht, um Ronald Rengs Buch Spieltage zu lesen. Das hat nichts damit zu tun, dass es langweilig wäre - im Gegenteil. Es war nur einfach so, wie es oft kommt, die ersten zweihundert Seiten las ich in einem Zug, dann geriet das Buch in einen Stapel, andere Sachen drängten sich vor, und nun habe ich die restlichen fast 400 Seiten erst ein Jahr später gelesen.

Eine "andere Geschichte der Bundesliga" kündigt Reng im Untertitel an. Das ist fast noch eine Untertreibung, denn es steckt auch eine veritable Alltags- und Mentalitätsgeschichte von Nachkriegsdeutschland in Spieltage. Im Mittelpunkt steht Heinz Höher, der als Spieler, Trainer, Jugendtrainer, Wettsüchtiger und Alkoholiker eine Menge erlebt hat.

Um es in seinen eigenen Worten zu sagen: "Heinz Höher, habe gut 400mal in der Bundesliga gecoacht, (...) habe dem Club fünf Nationalspieler beschert (...). Habe in Lübeck 1996 einen Kollaps erlitten." Das schrieb er in der Saison 2010/2011 an den Nürnberger Trainer Dieter Hecking, um sich dafür zu legitimieren, dass er ihm einen kollegialen Rat geben wollte: Der Spieler Juri Judt wäre im defensiven Mittelfeld viel besser aufgehoben als auf der rechten Position in der Viererkette.

Auf den in Karaganda geborenen Sohn von Russland-Deutschen setzte Höher in den vergangenen Jahren große Hoffnungen. Er hatte Judt trainiert, oft in individuellen Sonderschichten, seit dieser zwölf Jahre alt war. Und er hatte am Beispiel des talentierten, aber vielleicht nicht mit der großen Durchsetzungskraft ausgestatteten Spielers noch einmal erleben müssen, welches Auf und Ab der Berufsfußball für die meisten Beteiligten darstellt.

Höher, der als Spieler mit dem Meidericher SV (dem späteren MSV Duisburg) in und mit der Bundesliga debütierte, hatte seine größte Zeit in Nürnberg, wo er in den siebziger Jahren auch ein taktisches Experiment vornahm, das ihm mit diesem Buch einen Platz in der Fußballgeschichte sichern sollte: "Er ließ in den ersten Partien nach dem Beinbruch (des Stürmers Jupp Kazcor) die doch obligatorische Position des Mittelstürmers unbesetzt. Bei jedem Angriff des VfL sollte immer ein anderer der Mittelfeldspieler und Flügelstürmer auf die Position vor dem Tor vorstoßen, erklärte Höher. Das verlangte eine enorme geistige und körperliche Beweglichkeit. Das gehe nicht, sagten die Experten."

Opfer dieses Manövers wurde Hertha BSC mit einer 0:5-Niederlage unter Kuno Klötzer, der danach sagte: "So voller Dynamik, Wucht und Schwung und dazu mit einem großartigen Spielverständnis" habe er Nürnberg noch nie erlebt.

Es zählt zu den größten Stärken von Rengs Darstellung, wie er Höhers Fußballkompetenz als mehr oder weniger unbewusst oder halb bewusst begreift. Denn aus den offensichtlich sehr aufrichtigen Interviews, auf denen das Buch beruht, entwickelt Reng das Psychogramm eines Mannes, der im Innersten zutiefst unsicher ist, und zugleich genau zu wissen meint, was zu tun ist. Erklären kann er sich allerdings kaum, wohl auch nicht der eigenen Frau, deren "Verdrängungsschublade ... schon ziemlich voll" war. Doch die Ehe hielt all die Jahre, auch das ein Aspekt, in dem die Generation erkennbar wird, aus der die 1964er hervorgegangen sind, zu denen ich auch zähle. In der Öffentlichkeit blieb oft der Eindruck, Höher rede zu wenig oder "so komisch".

Nebenbei professionalisiert sich in all diesen Jahren die Liga, was an Details wie dem, dass erst ab einem gewissen Moment überhaupt jemand an Frauentoiletten in Stadien dachte, sehr gut erkennbar wird. Höher muss zwischendurch nach Saudi-Arabien, wozu es auch wieder ein brillant gesetztes Detail gibt: "Von (seiner Frau) Doris ließ er sich die Permanenzhefte der Spielbanken Bad Kissingen, Bad Reichenhall oder Bad Kötzting (...) schicken. Er verbrachte die Nachmittage im Schatten seiner Wohnung damit zu überprüfen, ob in der Reihenfolge der gefallenen Roulettezahlen irgendein Muster zu erkennen war."

Nun ist "pattern recognition" schon lange eine Grundbedingung des produktiven Fußballschauens, doch Heinz Höher suchte die Muster eben zunehmend anderswo, weil der Betrieb ihn nicht mehr brauchen konnte. Je näher das Buch der Gegenwart kommt, desto stärker kommen beim Lesen die eigenen Erinnerungen ins Spiel, was die Lektüre noch einmal interessanter macht. Es gibt spät auch noch einen Moment trauriger Ironie, an dem Hertha beteiligt war, als Otto Rehhagel nämlich, von dem Höher sich in vielerlei Hinsicht überflügelt vorkommen musste, sich in Berlin 2012 gründlich blamiert.

Ein Jahr ist seit dem Erscheinen des Buchs vergangen. Heinz Höher lebt immer noch in Franken. Juri Judt löste Ende 2013 seinen Vertrag bei RB Leipzig, spielte danach ein wenig in Saarbrücken, und ist derzeit vereinslos. Ob er auf der Suche nach einem neuen Verein oder einer anderen Betätigung ist, dazu geben die Suchmaschinen nichts her.

Ronald Reng: Spieltage. Eine andere Geschichte der Bundesliga, Piper Verlag 2013, 480 Seiten

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