An diesem Wochenende ist nun auch noch das letzte Quäntchen Fantasie aus meiner Arsenal-Saison entwichen. Das 3:3 gegen West Ham United war ein typisches Spiel für diese Mannschaft, wie wir sie in den letzten Jahren kennengelernt haben. Tags darauf sorgten Tottenham mit einem beeindruckenden 3:0 gegen Manchester United und Leicester mit einem souveränen 2:0 gegen Sunderland für deutliche Verhältnisse. Arsenal hat im Grunde nur noch ein denkbares Saisonziel: eventuell Tottenham zu überholen, um die größte denkbare Demütigung abzuwenden, nämlich dass der St. Totteringhams Day ausfällt.
Das wäre aber nur die ultimative Demütigung für Hardcore-Fans, zu denen ich schon deswegen nicht im vollen Umfang zähle, weil ich aus der Ferne zuschaue und eigentlich Tottenham auch mag, genau so wie West Ham. Ich liebe London (somehow), ich liebe den englischen Fußball, daraus ragt dann eben Arsenal hervor, zumal ich auch schon diese Stimmung erlebt habe, die in Islington nach einem Spiel herrscht. Das hat schon was, wie sich das allmählich in die Straßen der Stadt verläuft, ganz anders als beim Olympiastadion, wo weit und breit nichts ist und man schon Schwierigkeiten hat, sich mit Freunden, die anderswo saßen, für den Heimweg zu verabreden. Wenn man die U-Bahn wählt, warten die Freunde sicher beim Südtor und wollen zur S-Bahn.
Die vorsorgliche Apathie, mit der ich mir seit langem schon die Spiele von Arsenal anschaue, ist immer noch jederzeit leicht entflammbar. Es gibt keine andere Mannschaft, der ich unter Umständen eine Lizenz zum l'art pour l'art einräumen wurde. Hier aber ist das der Fall, und das hat nicht nur mit Mesut Özil zu tun, dem sicher größten Künstler des gegenwärtigen Fußballs, und zwar noch vor Messi. Arsenal zwingt uns Fans geradezu in einer Haltung des immerwährenden Aufschubs, denn die beiden FA Cups können allenfalls Traditionalisten darüber hinweg trösten, dass zur entscheidenden Konkurrenzfähigkeit seit 2004 jedes Jahr etwas fehlt.
Aber bevor man darauf schauen könnte, was es genau ist, taucht immer wieder irgendein Hoffnungsschimmer auf. So verhielt es sich in den vergangenen Wochen mit Alex Iwobi. Ein 19 Jahre alter Engländer aus Nigeria, der relativ unvermittelt aus dem Nachwuchs zum Team stieß, der Serge Gnabry oder eine Hoffnung von vorgestern wie Ryo Myaichi deutlich in den Schatten stellt. Der neue Bergkamp, der seit Jahren erwartet wird wie ein Messias, ist vielleicht dunkelhäutig und hat eine Vorliebe dafür, die Stutzen so wie Thomas Müller zu tragen.
Iwobi bringt Esprit in eine Mannschaft, an deren offensiven Teil ich neulich oft denken musste, als die trägen Galaktiker von Real Madrid sich von Wolfsburg lähmen ließen. Ich bin sicher - mit einem dieser Gedanken, die niemandem etwas bringen, ohne die der Fußball aber unerträglich wäre -, dass Arsenal den VfL auseinandergenommen hätte. Aber Arsenal kommt ja nicht ins Viertelfinale der Champions League.
Weil davor eben diese Wochen liegen, in denen die Mannschaft traditionell kollabiert. Zu einem gewissen Teil hat das sicher mit Eigenschaften des englischen Spiels zu tun, die gegen West Ham sehr gut zu beobachten waren. Wenn da nämlich ein schwacher Schiedsrichter am Werk ist, dann werden Begegnungen in der Premier League schnell zu einer Art "glorified Rugby mit Füßen". Kein Wunder, dass das Aggressionsmonster Sandro Wagner angeblich Angebote aus England hat. Er könnte dort ein neuer Bobby Zamora werden, um an einen früheren Alptraum von Arsenal zu erinnern, oder eben ein weiterer Andy Carroll.
Dreimal fand am Samstag eine Flanke den Abnehmer in Carroll, zweimal verwandelte er mit dem Kopf, einmal mit einem Halbseitfallzieher, oder wie auch immer man die Einlage nennen mag. Für die deutschen Kommentatoren war dies Anlass genug, nach Per Mertesacker zu fragen, der seinen Stammplatz verloren hat, dabei wäre er doch sogar noch größer als Carroll gewesen. Die Flanken zu unterbinden, das primäre Rezept in solchen Situationen, war angesichts der insgesamt turbulenten Gesamtsituation in diesem Spiel nicht machbar.
Dabei hat Arsène Wenger zuletzt die Mannschaft mit einer Doppelsechs kompakter aufgestellt. Mohammed Elneny, im Winter aus Basel gekommen, hat inzwischen einen Stammplatz neben Coquelin. Dass er die einflussreiche Persönlichkeit werden könnte, die Arsenal seit langem auf dieser Position fehlt, ist allerdings kaum zu erwarten nach seinen bisherigen Leistungen. Die sind passabel, aber eben ziemlich genau in der Preisklasse eines Flamini.
Arsenal unter Wenger II (unter dem späten, unbelehrbaren, zunehmend auch rhetorisch ratlosen Wenger) hat meistens sechs bis sieben exzellente Spieler, die ihre brillanten Ideen mit drei, vier "weaker links" teilen müssen. Das ist eine andere Statik als bei einer Mannschaft wie Hertha, bei der niemand herausragt, allerdings eine gewisse Grundqualität auf allen Positionen für Gleichgewicht sorgt. (Dass zuletzt die Kompaktheit auch rund um Per Skjelbred & Co. ein bisschen verloren gegangen ist, muss noch nicht das letzte Wort über diese Saison sein.)
Arsène Wenger weist darauf hin, dass Arsenal nominell die viertbeste Defensive der Premier League hat. Der Genauigkeit halber müsste er inhinzfügen, dass es sich um ein irreguläres Jahr handelt, weil fast alle Teams arge Aussetzer haben. Und 33 Gegentore in 32 Spielen ist eben doch ein Durchschnitt über 1,0, und damit nicht mehr im Bereich einer Topmannschaft.
All das sind aber nut vernünftige Überlegungen, die nicht wirklich weiterhelfen, wenn man es mit einem Spiel wie gegen West Ham zu tun hat, wo von Beginn an nichts stimmte: zuerst wird ein reguläres Tor der Hammers aberkannt, dann ist meiner Meinung nach Özil beim Führungstreffer für Arsenal im Anseits, das Tor zählt aber. Andy Carroll hat da schon ein Foul hinter sich, das in der 5. Minute kaum einmal mit Rot geahndet wird, aber absolut grenzwertig war. Das Spiel gehorchte niemandem, und Arsenal ist schon gar nicht eine Mannschaft, die sich so ein Chaos dann doch noch irgendwie gefügig macht. Das sind aber Qualitäten, die im Fußball an die Spitze führen.
Mit Arsène Wenger wird das nicht mehr passieren. Deswegen werden wir Arsenal-Fans uns noch länger mit der Freude am Stückwerk bescheiden müssen. Und mit dem Kampf um die Teilnahme an einer Champions League, in der die Stärken und Schwächen des Teams dann gnadenlos bloßgestellt werden. Warum tut man sich das an? Weil das Stückwerk nicht nur immer wieder atemberaubend ist, sondern diese ununterdrückbare Suggestion in sich trägt, es ließe sich eines Tages zu etwas Vollständigem ergänzen.
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