Die Grenzen der Anrechenbarkeit

Ein "geiles Spiel" ist häufig eines, in dem beide Mannschaften die Kontrolle verlieren. Beim 3:3 von Hertha bei Werder Bremen war das aber gar nicht so. Es war eigentlich ein recht ausgeglichenes, an Chancen auf beiden Seiten nicht eben reiches Spiel, in dem Hertha nur für kleinere Perioden leichte Vorteile hatte. Ein prinzipieller Unterschied zwischen europäischen Ambitionen und Abstiegskampf war nicht zu erkennen. Es war vielmehr eines der vielen Duelle auf Augenhöhe, die es in der Bundesliga gibt. Die Gegner auf Augenhöhe hat Hertha im Herbst fast alle geschlagen, hatte Fabian Lustenberger vor dem Spiel betont, und er hatte hinzugefügt: "Das könnte man uns hoch anrechnen. Macht man aber nicht."

Es wird eben immer nur so hoch angerechnet, wie die Mannschaft steht. Und Hertha steht weit oben, die Anrechenbarkeitsgrenze hat sich entsprechend verschoben. Dass der Coach nun auch im zweiten Rückrundenspiel hinten hinaus konsolidierend einwechselte, also nicht auf Sieg spielte, das mag leicht an der Frustrationsgrenze kitzeln. Es entspricht aber wohl einer Rückrunde, in der die Mannschaft sich noch in einer Rolle sucht, die in der Liga nur wenige haben wollen: in der Favoritenrolle, mit der ein produktives Dominanzspiel einher geht.

Hertha nimmt diese Rolle eindeutig an. Nun gilt es, diese mit der (selbst gegen Augsburg noch bewährten) Kompaktheit zu verbinden. Gegen Bremen gelang das in beide Richtungen nicht wirklich. Weder gab es offensiv ausreichend kreative Szenen, noch stand am Ende defensiv eine Null. Ein Charakteristikum der selbstbewussten Hertha wird immer mehr auch zu einem Manko: Sie spielt gern und im Bewusstsein dessen, dass sie den Spielrhythmus bestimmt, hinten herum, sucht nicht ungeduldig den öffnenden Pass, sondern bezieht Jarstein oft mit ein.

Das führt allerdings zu dem Problem, das sich in Bremen als entscheidend erwies: Die gut pressenden Gegner zwingen Hertha zu einem Aufbauspiel an der Seitenlinie, im Zentrum geht wenig. So blieb das Spiel in der ersten Hälfte ereignisarm, trotz der aufwändigen Bemühungen von Kalou, mit weiten Wegen interessante Verknüpfungen herzustellen. Die beiden Tore fielen bezeichenderweise aus zwei Situationen, in denen ausnahmsweise Unordnung im Zentrum herrschte, wobei Daridas spektakulärer Führungstreffer durchaus noch dem Aufbauspiel über die Seiten zugerechnet werden kann.

Interessant und für das Spiel bezeichnend ist, wie sich die beiden wichtigsten Treffer ergaben, die sich allerdings beide nicht als entscheidend erwiesen: Das 2:0 von Hertha vor der Pause und der Anschlusstreffer bald in der zweiten Halbzeit. In beiden Fällen brachten Spieler mit einem vertikalen Lauf im Zentrum Dynamik in das Spiel. Weisers Durchbruch führte über den Umweg eines Freistoßes von Plattenhardt zum Ziel, Bartels konnte selbst abschließen, weil bei Hertha niemand das Risiko eines taktischen Fouls eingehen wollte. Der Lauf war auch zu überraschend, Bartels war zu flink, es reichten ein, zwei intuitive Verlagerungen, und dann ein Abschluss mit dem "falschen", weil davor nicht ballführenden Fuß.

Die weiteren drei Tore enthielten alle Varianten, die ein dann offener gewordenes Spiel eben so hergibt: einen mustergültigen Hertha-Konter über die einmal offene Seite (bemerkenswert, wie sehr Pal Dardai sich danach mit van den Bergh herzte), ein Getümmel im Strafraum und eine Standardsituation führten zu Treffern für Bremen. Hertha hätte das Spiel auch entscheiden können, am interessantesten erschien mir eine Szene um die 60. Minute, als Kalou von halbrechts in den Strafraum zog und für meine Begriffe zu früh abschloss - er hätte vielleicht noch ein paar Schritte laufen können und hätte dann eine ideale Gelegenheit vorgefunden. Er traf aber auch so zum 3:1, später, und bald darauf kollabierte Hertha für ein paar Minuten.

In den Vorberichten zur Rückrunde war gelegentlich die Rede davon gewesen, dass Herthas Höhenflug zu einem Teil auf Glück beruht. Als ein Indiz galt dabei, dass Kalou 39 Prozent seiner Chancen verwerten konnte: eine "verdächtig gute Quote". Vielleicht aber doch nur ein Anzeichen dafür, dass es sich um einen Weltklassestürmer in reifen Jahren handelt, der in seinem zweiten Jahr bei Hertha seine Rolle bei Hertha gefunden hat.

Doch ist er momentan wirklich ideal eingesetzt? Pal Dardai vertraut ziemlich bedingungslos einer ersten Elf, in der für Kalou nominell nur auf der Seite Platz ist. Er nimmt sich die Freiheit, überall aufzutauchen, in Abschlusssituationen kommt er dadurch allerdings seltener. Der nächste Gegner ist der BVB, zudem wird Skjelbred gesperrt sein, es böte sich da vielleicht einmal an, dem gegen Bremen schwachen Ibisevic eine Pause zu gönnen. Insgesamt wird es in den kommenden Wochen auch darauf ankommen, ob Pal Dardai willens ist, ein wenig flexibler aufzustellen, mit Formationen auf die neuen Herausforderungen für Hertha einzugehen. Verändere niemals ein remisierendes Team - diese Devise gibt es ohnehin nicht.

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