Gestern wurde im Olympiastadion wieder gesungen. Es waren zwar bloß 4000 Fans zugelassen, aber die Ostkurve verbreitete doch eine Andeutung von klassischem Support in schwierigen Tagen (eine Menge Speichel wird auch geflogen sein durch die nun schon herbstliche Luft). Das Spiel war dann aber danach, die ohnehin immer stark bemühte Ironie des "Wir holn die Meisterschaft" schnell wieder zu verstauen. Maske der Besonnenheit drüber.
Hertha verlor gegen Eintracht Frankfurt vollkommen verdient und folgerichtig mit 1:3. Und der Prozess des Kennenlernens, der mit einer neuen Saison immer einher geht, brachte schon am zweiten Tag (beim zweiten Date, würden wir Fans sagen) eine merkliche Entfremdung. Was ist das eigentlich für eine Mannschaft, der wir da folgen?
Nun, es ist eine Mannschaft, die doch deutliche Zeichen jener Disruption zeigt, von der Hertha sich seit Windhorst den Erfolg verspricht. "Wir haben jetzt Geld", dieser Satz von Aufsichtsrat Torsten Jörn-Klein, von den DAZN-Schnipslern zu einem Slogan hervorgehoben, steckt der Mannschaft nicht in den Knochen, aber doch als Fragezeichen im System.
Hertha hat zweifellos jetzt Spieler für etwas Besonderes. Aber von einem Plan war nicht viel zu sehen. Die Eintracht war organisiert, Hertha hoffte auf Inspiration. Man könnte jetzt länger über Boyata schreiben, aber der neue Kapitän war immer schon ein solider Innenverteidiger mit einem Hang zum Ungestümen. Also im Grunde keine Idealbesetzung, sondern ein akzeptabler Kompromiss.
Der systemische Ansatzpunkt für eine schwache Leistung vor allem in Halbzeit eins ist aber dort zu suchen, wo Hertha trotz vieler Millionen eine Lücke im Kader gelassen hat. In dem Dreieck, das zu Beginn von Stark, Tousart und Darida besetzt wurde. Der Franzose ist immerhin die teuerste Verstärkung, die Hertha sich jemals geleistet hat. Es ist natürlich noch zu früh für eine Einschätzung, gestern war er einer der unglücklichen Akteure (gegen Braunschweig war er weitgehend unsichtbar, gegen Bremen lief es für ihn okay).
Wichtig ist aber eines: Hertha hat viel Geld ausgegeben, 10 Millionen für den momentan schon fast wieder vergessenen Ascasibar, 25 Millionen für Tousart, selbst die längst obsoleten 7 Millionen für Löwen zählen da noch dazu, ohne dabei eine wesentliche Aufgabe wirklich zu lösen: nämlich einen Sechser zu finden, der sowohl Bälle anfängt, erobert, als auch mehr als nur schematisch verteilt. Niklas Stark spielt die Position meistens zu neutral, gegen die Eintracht blieb das ganze Mittelfeld radikal unproduktiv, bis auf zwei lange Bälle von Arne Maier, der zum Pechvogel des Spiels wurde, weil er sich nach seiner Einwechslung zur Pause bald verletzte. Hertha hat einige potentielle Achter, aber weiterhin keinen unumstrittenen Sechser.
Gestern war das Zentrum defensiv wie offensiv neben der Rolle, was sich in dem dritten Frankfurter Treffer durch Rode (und dem beträchtlichen Freiraum, den er dabei hatte) dann auch konkret manifestierte. Man kann das als Tagesform oder als ungenügende Einstellung verbuchen. Man kann es aber auch mit einer Veränderung der Club-Strategie in Zusammenhang bringen. Die Winter-Transferphase, also die erste mit den Windhorst-Millionen (und mit dessen Leuten: Arne Friedrich und, damals, Klinsmann) erweist sich nun als Hypothek. Denn der Integration von Tousart, der als Trophäe natürlich spielen muss, wird nun vieles untergeordnet: nicht zum Besten der Organisation, wie zu sehen war.
Cunha ist natürlich eine Bereicherung, und an guten Tagen kann er Fußball zu einem Fest machen. Er bringt aber auch eine Anarchie in die Formation, für die Hertha dann doch nicht die Spieler hat, zumal nicht, wenn ein Hoffnungsträger wie Mittelstädt unter Form spielt. Frankfurt hatte gestern in allen Bereichen Spieler, von denen individuell kaum jemand herausragt, aber man sah eine organisch gewachsene Einheit. Ein funktionales Ensemble.
Man spricht heute gern von Disruption, wenn es um die großen Sprünge wirtschaftlichen Erfolgs geht. Neue Phänomene, die unseren Alltag komplett umdrehen. Im Fußball steht Hertha derzeit für eine Logik der Disruption: einen Weg, der sich nicht mehr in Schritten, sondern in Sprüngen vollziehen soll (auch wenn die Rhetorik natürlich das Gegenteil beschwört). Für den Augenblick aber haben wir nicht mehr als die trivialste Form von Disruption: eine unberechenbare Mannschaft.
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