Miami Blues

Was die Trikotfarbe anlangt, kam die TSG 1899 Hoffenheim gestern mit einem "absoluten Hingucker im stylishen Miami-Look". Da zu dem optischen Ereignis auch noch drei Tore im Auswärtsspiel in Berlin dazu kamen, während das Heimteam torlos blieb, hat Hertha nun den Miami Blues. 17 Punkte aus siebzehn Spielen ergeben eine enttäuschende Hinrunde, der 16. Platz ist bedenklich unweit entfernt.

Man muss dazusagen, dass mit nur ein paar kleinen Launen des Schicksals der Punktestand auch anders lauten könnte. Denn gegen Köln war auch ein Sieg drin, und gestern hatte Piatek schon früh die Chance, Hertha mit einem Elfmeter in Führung zu bringen. Sechs Punkte aus den letzten beiden Spielen, und Hertha stünde bei 22, damit dann immerhin im zuletzt meist angestammten Terrain, im Niemandsland der Tabelle.

Nun aber ist Abstiegskampf, und zwar unter verschärften Bedingungen. Denn das Leben und Trainieren in den Corona-Blasen macht alles noch schwieriger, aber auch da gibt es Mannschaften, die besser damit umgehen als andere (nämlich zum Beispiel Hoffenheim, wie sich gestern erwies).

Die Beurteilung der aktuellen Lage hängt stark davon ab, womit man sie vergleichen will oder woran man sie messen will. Naheliegend ist, alles an den Millionen zu messen, die Lars Windhorst in den Verein gebracht hat, aber wir wissen natürlich auch, dass davon gar nicht so viel in neues Personal gehen konnte, wie eigentlich ideal gewesen wäre. Zudem ist doch deutlich zu sehen, dass die Transferaktivitäten seit dem Winter 2019/20 sich sogar eher als disruptiv herausgestellt haben. Ich jedenfalls sehe nicht viel Verstärkung.

Ich messe die aktuelle Situation auch lieber an einer Phase, mit der Hertha-Fans in den letzten Jahren am ehesten Freude haben konnten: es gab unter Pal Dardai immer wieder Spiele, in denen Hertha Ansätze zu interessantem Ballbesitzfußball zeigte. Wir wissen alles, dass das nicht weiterentwickelt wurde, und ich setze auch nicht auf ein Comeback von Pal Dardai als Cheftrainer.

Aber damals war, bevor die Mannschaft dann ein wenig unerklärlich vollkommen den Geist aufgab und zu einem apathischen Hintenrumensemble wurde, vieles in einem guten Gleichgewicht: Preetz fand interessante junge Spieler, Transfersummen und Gehälter waren realistisch, aus dem eigenen Nachwuchs kamen gute Leute.

Heute ist von allem dem nicht mehr viel zu sehen. Spielerische Armut ist die Großüberschrift über der absolvierten Hinrunde. Gerade das Mittelfeld, in das viel investiert wurde, erweist sich kontinuierlich als unproduktiv. Zudem reicht eine einzige Verletzung (Dilrosun), und Hertha muss das Flügelspiel weitgehend einstellen. Von einer Integration der Mannschaftsteile, die zu variantenreichem Aufbauspiel führen könnte, wollen wir gar nicht reden.

Unter Labbadia hat sich bisher auch kein Spieler individuell profiliert. Cunha arbeitet ausschließlich mit seinem beträchtlichen Talent und seinen Skills, bringt aber wenig für ein planvolles Spiel. Lukebakio zeigte von Beginn an viele Anzeichen für einen Fehleinkauf, und kann diesen Eindruck selten widerlegen. Mittelstädt wirkte lange wie ein zwar nicht übermäßig begabter, aber intelligenter und lernbegieriger Profi, dieses Jahr wirkt er, als hätte er seinen Plafond erreicht. Niklas Stark ist Kapitän, Führungsspieler und erster Erklärer (er stellt sich immer zum Interview), er steht aber eben auch für die radikale Mittelmäßigkeit, in die sich alles einpendelt bei Hertha.

Die Stimmung scheint insgesamt von einer seltsamen Mischung aus Ungeduld und Trägheit bestimmt zu sein. Jordan Torunarigha schlägt einmal blöd über den Ball, und schon hat er wieder einen Stammplatz auf der Bank. Lukas Klünter hatte bei Labbadia nie einen Auftrag, und soll abgegeben werden. Pekarik spielt bei Labbadia immer, ist sicher auch ein guter Mann, aber wird dann doch oft gegen Zeefuik ausgetauscht, der manchmal ein bisschen etwas andeutet, selten aber etwas bringt, was Klünter nicht auch schon einmal angedeutet hatte.

Was hinter diesen kurzatmigen Manövern unmöglich wird, ist die Entwicklung einer Mannschaft, die eine Identität hat, in der sie sich wiedererkennen kann. Dazu braucht es ein Gespür für Charaktere, auch ein Gespür für Kommunikationsprozesse, und eine Vorstellung von Perspektive. Arne Maier hatte unter Dardai eine wirklich interessante Saison, und hätte das Zeug zu einer Identifikationsfigur, wurde aber im Covic-Klinsmann-Nouri-Labbadia-Chaos allein gelassen.

Eine Hertha mit Torunarigha, Boyata, Stark (im DM oder in einer Dreierkette) und Maier, alle mit einem Vertrauensvorschuss ausgestattet, aber auch mit einer klaren individuellen Leistungsanleitung, hätte einen erkennbaren Teamkern, eine Identität, auch eine Kontinuität ergeben. 17 Punkte hätte sie in dieser Halbserie sicher auch hingekriegt, ich bin mir sicher, kann es aber natürlich nicht beweisen, dass es deutlich mehr gewesen wären. Stattdessen fremdeln im DM zwei Franzosen miteinander (hat jemand zwischen Guendouzi und Tousart auf dem Feld schon einmal ein Kommunikationssignal bemerkt?), versucht Darida die Defizite in der Spielanlage zuzulaufen, und irrt Lukebakio durch Aufgabenstellungen, die nicht einmal dem großen Innovator Klinsmann eingefallen wären.

Hertha ist im Jahr zwei seit Tennor in einem paradoxen Zustand: Seit dem Investment ist alles anders, nämlich so, wie es meistens war, also unklar, nur mit mehr Personal auf der Bank. Michael Preetz ist nun die bervorzugte Hassfigur vieler Fans. Viele hoffen auch auf die nächste Tranche von Tennor. Die Unverdrossensten hoffen auf Luca Netz. Labbadia sucht nach Ansatzpunkten, findet aber keine. Gegen Werder am Samstag geht alles wieder von vorne los.

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Kommentare

Kommentar von ubremer |

"Lieber Marxelinho, das Thema ""was Hertha mit den Windhorst-Millionen angestellt"" ist ein sehr spannendes. Um bei der Beurteilung zu helfen, verweise ich auf die öffentlich zugänglichen Quellen, die es (über die Ausführungen in Ingo Schiller bei Mitgliederversammlungen hinaus) gibt. So muss Hertha wegen der Aufnahme der 40-Millionen-Anleihe (Nordic Bond) seit Anfang 2019 alle sechs Monate seine Zahlen im Detail offenlegen. Die finden sich auf der Homepage von Hertha auf der Startseite (ganz unten ""Nordic Bond""). Zur Chronologie: Mai 2019: Finanzchef Schiller teilt mit, dass Hertha im Fall von Transfereinnahmen im Sommer, nur einen Teil in die Mannschaft reinvestieren kann (meint: mit dem anderen Teil müssen Schulden beglichen werden). 27. Juni 2019 Hertha gibt bekannt, dass Investor Windhorst dem Verein 125 Millionen Euro überwiesen hat. August 2019 Hertha sticht im Rennen um Dodi Lukebakio Borussia Dortmund aus. Die Berliner legen ein XXL-Angebot vor und verpflichten den Stürmer für ein Paket (Abl�se, Handgeld, Gehalt), das Hertha ohne Investor nie hätte zahlen können. Lukebakio ist der erste Griff von Preetz in ein Regal, in dem sich Hertha zuvor nicht bedienen konnte. Weil das Thema angesprochen wurde, dass Hertha mit den wohl noch Altlasten bezahlen musste: Im Prospekt für den Nordic Bond im November 2018 hat Hertha neben hohen Bankverbindlichkeiten ausgewiesen, dass es weitere Verbindlichkeiten in höhe von insgesamt 25,85 Mio. Euro gibt. Die haben sich angesammelt zwischen 2007 und 2017. Diese 25,85 Mio. Euro wurden vereinbart mit - F.U.G.E. Beteiligungen GmbH & Co KG - R.T.F. GmbH & Co Kg - Dual Voltage Die ersten GmbHs waren in Berlin ansässig, die dritte in der Schweiz. Hertha wollte nie sagen, wer Geld gegeben hat (""Es handelt sich um in Deutschland steuerpflichtige Bärger""). Laut Handelsregister werden die Beteiligungen von Rechtsanwälten/Notaren gehalten. Spricht man mit ihnen, erklären sie: Sie seien nicht befugt mitzuteilen, für wen sie die Anteile halten. Es gab immer Spekulationen, dass hinter den ersten beiden Gesellschaften der Präsident/Freundeskreis stehen könnte - belegen läßt sich dies nicht Wer immer von 2007 bis 2017 gezahlt hat, durch die Windhorst-Millionen wurde zurückgezahlt. So wurden die Genussscheine von F.U.G.E. (acht Mio.) drei Tage nach Eingang der ersten Tennor-Rate ""passiviert"". Hertha-Zahlen 30. Juni 2019 (also nach Eingang der Windhorst-Tranche) - Capital reserve 123,44 Mio. - Loss carryforward -110,38 Mio. - Verbindlichkeiten 91,62 Mio. (davon 40 Nordic Bond, 20 Bank, other liabilities 22,93) Hertha-Zahlen 30. Juni 2020 (wir erinnern uns: Mittlerweile hatte Windhorst weitere Tranchen überwiesen, dazu Corona) - Capital reserve 221,4 Mio. - Loss carryforwart -136,4 Mio. - Jahresverlust -53,5 Mio. - Verbindlichkeiten 141,67 Mio. 1/2""

Kommentar von ubremer |

2/2 Die letzten vorliegenden Zahlen: Hertha 31.12.2020 - Capital reserve 221,4 Mio. - Loss carry forward -189,87 Mio. - Verbindlichkeiten 121,33 Mio. Corona-Auswirkungen für 2020/21: - net loss erste sechs Monate -32,66 Mio. Erwarteter Verlust für 2. Hälfte: - 25,8 Mio. Wenn so kommt, addiert sich das Saison-Minus 2020/21 auf 58,4 Mio. Gruß aus Moabit P.S. Poste im nächsten Kommentar (falls es möglich ist) die Links zu den Quellen dieser Zahlen

Kommentar von ubremer |

P.S. Quellen zum Zahlen-Gewitter (jeweils als PDF): Prospekt zur 40-Mio-Anleihe (Nordic Bond) vom 6. November 2018 https://content.herthabsc.com/site/binaries/content/assets/club/nordic-bond/herthabsc-amended-terms-and-conditions-181210.pdf Hertha-Jahresabschluss 1. Juli bis 31.12.2018 https://content.herthabsc.com/site/binaries/content/assets/club/nordic-bond/herthabsc-jahresabschluss-181231_01.pdf Hertha-Abschluss 1. Juli 2018 bis 30. Juni 2019 https://content.herthabsc.com/site/binaries/content/assets/club/nordic-bond/digital_copy_english_translation_hertha_bsc_gmbh_u_co_kommanditgesellschaft_auf_aktien_kgaa_konzernabschluss_30_06_2019.pdf Hertha-Abschluss 1. Juli 2019 bis 30. Juni 2020 https://content.herthabsc.com/site/binaries/content/assets/club/nordic-bond/hertha_bsc_consolidated_30_06_2020_english.pdf Hertha-Jahresabschluß 1. Juli 2020 bis 31. Dez. 2020 https://content.herthabsc.com/site/binaries/content/assets/club/nordic-bond/hertha_consolidated_financial_statements_31122020.pdf

Kommentar von Oliver |

Hallo Marxelinho, ich und viele andere vermissen deine immer sehr klugen Artikel, ich hoffe, es erscheint bald wieder mal einer. Deine Seite ist in den ja immer schwierigen Zeiten mit der Alten Dame stets etwas gewesen, an dem ich mich festhalten konnte. Die Lage aus Fansicht frei von Journalistenhäme treffend zu analysieren, erschien mir immer der erste Schritt, die Hoffnung auf Besserung stirbt natürlich auch bei mir als nicht anders könnender Hertha-Fan zuletzt :-)

Kommentar von Marxelinho1892 |

Die Gründe warum ich aufgehört habe Fankommentare zu Hertha BSC zu schreiben sind vielschichtig, lassen sich aber auch mit zwei Namen zusammenfassen: Ingo Schiller und Lars Windhorst.

Kommentar von hermann |

"Wenn du dir eine profunde Meinung über die Geschehnisse rund um Herthas Präsidiumswahl bilden möchtest und dann merkst, dass marxelinho einen schreibstreik eingelegt hat ... so sad)

Kommentar von Johan |

Hi Marxelinho, auf Grund der neuesten Entwicklungen hätte ich gehofft, dass Du den Faden wieder aufnimmst. Ingo Schiller nimmt ja nun bald seinen Hut. Und Lars Windhorst wird nicht gehen, dass hat er ja klar gestellt. Nie mehr Fußballfeuilleton von Marxelinho?

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