Spekulationssubjekt

Abstiegskampf kann grausam sein. Wenn Teams mit notdürftigen Mitteln um Punkte ringen, die sie unbedingt zum Überleben brauchen, darf man keine großen Erwartungen haben. Manchmal gibt es aber auch noch diesen anderen Abstiegskampf, der von Teams bestritten wird, die nicht so recht wissen, wo sie hingehören, die nicht eigentlich gefährdet sind, aber auch mit den Entscheidungen in der Liga nichts zu tun haben. Und die deswegen einen Fußball spielen, der zwar ernst ist (weil das Spiel ja gewertet wird), der aber ein bisschen so wirkt, als hätte er um eine Befreiung von Kompetenzerwartungen angesucht, und warte noch auf den Bescheid.

So ein Spiel war das gestern zwischen Wolfsburg und Berlin, den grauen Nagetieren der Liga. Im Volksmund spricht man auch von einem ICE-Derby, de facto aber müsste man das Wagenmaterial, das in diesem Fall metaphorisch naheliegt, wohl aus dem Eisenbahnmuseum holen. Hertha gewann durch ein spätes Tor von Lukebakio mit 2:1. Wolfsburg hatte das Nachsehen und musste sich mit übler Nachrede behelfen: Die Vorbereitung durch Grujic wurde als "Sonntagsflanke" diskreditiert.

Es war aber nicht einmal eine Flanke. Es war etwas viel Kunstvolleres: ein Chip über zwanzig Meter, gerade so scharf, dass der Ball nicht in der Luft verhungerte, und dass Klünter ein Kopfballduell gewinnen konnte, aus dem der Ball zu Lukebakio weitertrödelte, von dessen Hinterkopf er dann unerreichbar ins Kreuzeck trudelte. Wobei das Wort Flugbahn in keiner Phase dieser Bewegung wirklich angemessen war. Aber so fallen im Fußball eben auch Tore.

Als Zwischenbilanz aus den ersten beiden Spielen der Rückrunde kann man nun errechnen: Hertha ist am Freitag gegen Schalke Favorit. Die Rechnung geht so: Hertha verlor gegen Bayern 0:4, Schalke gestern 0:5, macht also plus eins Hertha, Schalke spielte allerdings auswärts, macht einen Negativpunkt Abzug, also Gleichstand, plus Heimvorteil Hertha (wobei: zählt der?), macht also hauchdünne Favoritenrolle.

Ansonsten gibt es vorerst nach sieben Spielen Klinsmania nur Details, aber kein Bild. Hertha spielt irgendeinen Fußball, gestern mit zwei defensiven Mittelfeldspielern, sodass man sich fragen mochte, warum der Kader für mehr als zehn Millionen mit einem Doppelgänger von Skjelbred ergänzt wurde. Ach ja, Ascacibar ist jünger. Lukebakio war statt Selke der Mittelstürmer, er traf, deswegen kann man über die 90 Minuten davor großzügig hinwegsehen.

Mit Torunarigha und Stark hat Hertha eine zweite Innenverteidigung, die zur ersten keinen offensichtlichen Qualitätsunterschied erkennen lässt. Mittelstädt deutete 30 Minuten an, dass er Plattenhardt häufiger vorzuziehen wäre, danach verschwand er in die Zufälligkeit der blauweißen Bemühungen.

Grujic ließ zweimal erkennen, wie er als Fußballer gepolt ist: sein Steilpass auf Esswein vor der Großchance von Lukebakio kurz vor Schluss hatte das Timing einer Atomuhr, die in ein Spielbein geschlüpft war - es war eine Bewegung, als wollte er mit einer winzigen Verzögerung in die Pixel der kalibrierten Linien eindringen, mit denen "Köln" notdürftig das sekundenbruchteilige Geschehen in einem Fußballspiel judizierbar zu machen versucht.

Seine Sonntagsflanke war dann anderer Natur: der Ball musste irgendwie in den Strafraum, denn ein Einszueins hätte Hertha nur tiefer in einen Abstiegskampf gezogen, den sogar Paderborn mit richtigem Fußball und nicht mit einem zusammenhanglosen Sammelsurium von Spielansätzen bestreitet. Mit einem Wort: Hertha musste seine Version des Abstiegskampfs verteidigen, jene methodische Beliebigkeit, für die Klinsmann & Team stehen.

Hertha kann derzeit nicht einmal von Spiel zu Spiel denken, es gibt nichts zu analysieren und keine Schlüsse zu ziehen, denn dieser Fußball entfaltet sich auf Grundlage verschiedener gespeicherter Wissensbestände invidueller Spieler höchstens von Pass zu Pass, und viele kommen, vor allem in der gegnerischen Hälfte, nicht an. Man kann ein Spiel auch mal mit einem spekulativen Ball gewinnen. Aber eine Serie von solchen Toren gibt der Fußballgott selten her.

Vielleicht steckt aber sogar eine hintergründige Pointe hinter diesem Fußball: Hertha BSC, im Sommer durch Tennor BV zum Spekulationsobjekt gemacht, macht sich stilistisch nun selbst zum Spekulationssubjekt.

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